Millionenschaden durch Schein-Vaterschaften Falscher Vater Jonathan zockt Deutschland ab - es ist nur die Spitze des Eisbergs

FOCUS-online-Autorin Anaïs-Sophie Bockholt

Montag, 26.02.2024, 15:09

"Falsche" Väter und ihre Familien kassieren in Deutschland jährlich Millionen Euro Steuergelder. Und das mit System: Seit Jahrzehnten bestehen ganze Netzwerke aus Betrügern. Der Grund: eine verhängnisvolle Lücke im Rechtssystem - die scheinbar niemand ernst nimmt.

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Scheinväter holen Kinder nach Deutschland und ermöglichen so Familiennachzug

Ein Mann, 24 Kinder: Der Betrugsskandal um Jonathan A. schlägt hohe Wellen in den Medien. Der Deutsche mit nigerianischem Migrationshintergrund kassiert Hunderttausende Euro Sozialleistungen pro Jahr - für seine angeblichen Kinder und deren Mütter. Aber Jonathan A. ist gar nicht der Vater dieser Kinder.

Deutsches Steuergeld für 94 Familienmitglieder

Im großen Stil lässt er sich Vaterschaften mit afrikanischen Frauen unterschiedlichster Nation anerkennen. So erhalten alle seine formalen Kinder und deren Mütter automatisch Aufenthaltsberechtigungen in Deutschland - und das Recht auf finanzielle Hilfeleistungen durch den deutschen Staat. Mehr als 1,5 Millionen Euro kostet die mittlerweile 94-köpfige Familie von Jonathan die Bundesrepublik - und damit die deutschen Steuerzahler; und zwar jährlich.

Der Skandal um Jonathan A. ist kein Einzelfall. Seine Geschichte ist beispielhaft für den Missbrauch von Vaterschaftsanerkennungen in Deutschland, hinter dem meistens kriminelle Banden stecken. Nach Informationen des ARD-Magazins "Kontraste" bestehen schon seit Jahrzehnten ganze Netzwerke, die mit Scheinvaterschaften im großen Stil abkassieren. Fachleute gehen von zehntausenden Fällen in den letzten Jahren aus, die Dunkelziffer schätzen sie noch höher ein.

Schneeballeffekt Schein-Vaterschaft

Das System funktioniert wie folgt: Die Banden sprechen bedürftige Deutsche, zum Beispiel Obdachlose an, und bieten ihnen beträchtliche Barzahlung von 5000 bis 20.000 Euro Die Bedingung: Sie müssen die Vaterschaft für ein Kind einer ausländischen Mutter anerkennen. Kommt der Deal zustande, erhält die ausländische Frau automatisch Zugang zu deutschen Sozialleistungen und das anerkannte Kind erlangt die deutsche Staatsbürgerschaft. Als Gegenleistung muss die Mutter an die kriminellen Vermittler Tausende Euro "Prämie" bezahlen.

"Bei Schein-Vaterschaften geht es darum, dass Menschen, die eigentlich keine Bleibeperspektive haben, in Deutschland bleiben können", so Axel Boshamer von der oberen Ausländerbehörde der Bezirksregierung Arnsberg in Nordrhein-Westfalen im Gespräch mit "Kontraste". In seinem Bundesland häuften sich laut Boshamer die Verdachtsfälle, bei denen Kinder von Müttern aus westafrikanischen Staaten sowie aus Ländern des Westbalkans involviert sind. "Dafür sind diese Menschen bereit, Geld zu bezahlen, meistens an denjenigen, der die Schein-Vaterschaft übernimmt".

Diese Vaterschaftsanerkennungen führen dann zu einem Schneeballeffekt, denn die Mutter bekommt Anspruch auf Sozialleistungen in Deutschland; und zwar für sich und alle ihre Kinder. So werden ganze Familien in das deutsche Sozialsystem integriert, ohne jemals einen Beitrag dazu geleistet zu haben.

"Im Durchschnitt sind es fünf Personen, die mit einer einzigen missbräuchlichen Vaterschaftsanerkennung in das deutsche Sozialsystem kommen", sagt Tobias M., Mitarbeiter der Sozialbehörde einer westdeutschen Stadt, der "Neuen Zürcher Zeitung". "Das kostet uns hier jährlich fünf Millionen Euro." Deutschlandweit soll sich der Schaden durch diese Masche laut "Bild"-Informationen auf über 150 Millionen Euro pro Jahr belaufen.

Fatale Lücke im Rechtssystem

Doch wie ist so etwas überhaupt möglich?

Die Geschichte solcher Scheinvaterschaften beginnt mit einer einfachen, aber schwerwiegenden Schwachstelle im deutschen Rechtssystem: Gemäß Paragraf 1592 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) kann ein Mann die Vaterschaft für ein Kind anerkennen, auch wenn er nicht der leibliche Vater ist. Diese Regelung wurde einst geschaffen, um Mütter bei ungewollten Schwangerschaften zu schützen. Wenn ein Kind erst mal von einem deutschen Vater anerkannt ist, lässt sich diese Anerkennung nicht mehr rückgängig machen.

Obwohl der Paragraph offensichtlich massenhaft von falschen Vätern ausgenutzt wird, dauert der Zustand seit zwanzig Jahren an. Zwar gibt es seit 2017 im Gesetzbuch eine präventive Missbrauchskontrolle, die eine missbräuchliche Anerkennung der Vaterschaft verbietet. Hierbei wird das Verfahren der Vaterschaftsanerkennung ausgesetzt, wenn es konkrete Anhaltspunkte dafür gibt, dass die Vaterschaft nicht rechtens ist.

Doch auch hier gibt es einen folgeschweren Haken: "Eine Anerkennung der Vaterschaft kann nicht missbräuchlich sein, wenn der Anerkennende der leibliche Vater des anzuerkennenden Kindes ist", heißt es. Ein DNA-Test darf von dem Vater aber überhaupt nicht verlangt werden. So entpuppt sich das Gesetz als stumpfes Schwert.

Kriminelle Banden werden selten geschnappt

"Es ist eine unzureichende Regelung, wie sie selten vorkommt", empörte sich Harald Dörig, ehemaliger Richter am Bundesverwaltungsgericht auf dem Gebiet des Ausländerrechts im Gespräch mit "Kontraste". Selbst wenn der Vater gar nicht behaupten würde, dass er in einem Verhältnis zu der Frau steht, könne er eine Vaterschaft anerkennen. "Auch das ist ein Grund, dass wir hier irgendwelche Voraussetzungen einbauen müssen, zum Beispiel eine familiäre soziale Beziehung", so Dörig. Diese würde aber momentan durch die beurkundenden Stellen überhaupt nicht geprüft.

Die Behörden haben nur selten Erfolg, ein kriminelles Geschäftsmodell hinter solchen Machenschaften aufzudecken. In einem aktuellen Fall hat die Berliner Staatsanwaltschaft Anklage gegen eine zehnköpfige Bande vietnamesisch-stämmiger Personen erhoben, die des Einschleusens mittels Scheinehen und Vaterschaftsanerkennungen beschuldigt werden. Diese Gruppe soll deutschen "Vätern" aus dem Obdachlosenmilieu zwischen 500 und 1500 Euro gezahlt haben, um die Vaterschaft für mindestens 20 Kinder von Müttern aus Vietnam anzuerkennen. Im Gegenzug kassierten sie von den vietnamesischen Müttern bis zu 35.000 Euro.

Auf Anfrage von "ARD Kontraste" teilte das Bundesjustizministerium jetzt mit, dass ein neuer Gesetzentwurf zum Thema Schein-Vaterschaften zeitnah vorgelegt werden soll. Ein genauer Zeitpunkt wurde nicht genannt. Währenddessen hat Jonathan A. bereits zwei weitere Vaterschaftsannerkennungen beantragt.


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